Kairos – der richtige Moment
Blog-Beitrag vom 12.10.2025
Wir leben in einer Zeit, die von Geschwindigkeit beherrscht wird. Alles ist messbar, planbar, optimierbar. Wir strukturieren unseren Alltag nach Terminen, Taktungen, Fristen – nach Chronos, der linearen, berechenbaren Zeit. Doch jenseits dieses Taktgefüges gibt es eine andere Dimension der Zeit: Kairos. Er lässt sich nicht planen, nicht messen, nicht kontrollieren. Kairos ist die Zeit des Geschehens, des Ereignisses – jener Moment, in dem etwas Inneres und Äußeres plötzlich in Resonanz treten.
Woher kommt der Begriff?
In der altgriechischen Rhetorik bezeichnete Kairos jenen Moment, in dem das gesprochene Wort die größte Wirkung entfaltet – der Augenblick, in dem etwas „zur rechten Zeit“ gesagt oder getan wird. Später wurde Kairos zu einem philosophischen Symbol für das rechte Maß der Handlung im Vollzug der Zeit.
In der christlichen Tradition erhält Kairos eine theologische Wendung: Es ist die Zeit der Gnade, der göttliche Moment, in dem sich das Heilsgeschehen aktualisiert. Schon im Neuen Testament heißt es: „Siehe, jetzt ist die Zeit des Heils“ (2 Kor 6,2). Damit wird Kairos zur Kategorie des Ereignisses, in dem sich Sinn und Zeit berühren.
Aus spiritueller Sicht ist Kairos die Manifestation des Divine Timing - des göttlich richtigen Zeitpunktes.
Kairos aus Sicht der Philosophie
Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard (* 5. Mai 1813 in Kopenhagen; † 11. November 1855 in Kopenhagen) übersetzt Kairos in eine existenzialistische Denkfigur: den Augenblick. Er versteht ihn als den paradoxen Schnittpunkt zwischen Zeit und Ewigkeit – jenen Moment, in dem das Endliche das Unendliche berührt.
Im Augenblick erkennt der Mensch sich selbst als ein Wesen der Entscheidung. Nicht das äußere Ereignis, sondern die innere Zustimmung, das „Ja“ des Selbst zum Augenblick, macht ihn bedeutsam. So schreibt Kierkegaard: „Der Augenblick ist das Erste und das Letzte zugleich; er ist das Atom der Ewigkeit.“ In dieser Perspektive ist Kairos nicht planbar, sondern ein Ereignis der Freiheit – der Moment, in dem der Mensch sich seiner selbst bewusst wird und sich zugleich in seinem Dasein bejaht.
Bei Martin Heidegger (* 26. September 1889 in Meßkirch; † 26. Mai 1976 in Freiburg im Breisgau) erfährt der Gedanke des Kairos eine ontologische Vertiefung. In Sein und Zeit beschreibt Heidegger die menschliche Existenz als ein Sein-zur-Zeit: Das Dasein ist kein neutrales Objekt in der Zeit, sondern zeitlich in seinem Wesen. Der „Augenblick“ (Augenblicklichkeit) wird für Heidegger zur existenzialen Struktur: Er ist die Haltung, in der das Dasein aus der Zerstreuung des Alltags in die Entschlossenheit zurückkehrt. Im Augenblick „holt das Dasein die Zukunft zu sich“, es er-greift seine Möglichkeit.
Kairos bedeutet hier also nicht bloß den richtigen Zeitpunkt, sondern die existenzielle Gegenwärtigkeit, in der das Dasein sich auf seine eigene Möglichkeit hin öffnet. Heideggers Begriff des Ereignisses (später: Ereignisdenken) radikalisiert diese Idee: Zeit ist kein Rahmen, in dem sich Sein abspielt – sie ist selbst die Dimension, in der Sein geschieht.
Kairos in der Gegenwart
In einer Epoche der Dauerbeschleunigung droht die Erfahrung des Kairos zu verschwinden. Chronos dominiert – Zeit wird zur Ressource, die man „managt“. Doch das Leben entzieht sich dieser Logik. Sinn entsteht nicht aus dem Zählen der Stunden, sondern aus dem Erleben des Wesentlichen. Kairos ist die Widerständigkeit des Augenblicks gegen die lineare Zeit. Er erinnert uns daran, dass das Bedeutende nicht planbar ist – dass Erkenntnis, Begegnung, Entscheidung ereignishaft sind. Das Subjekt des Kairos ist nicht der Manager seiner Zeit, sondern der Hörende, der Empfangende, der Handelnde im rechten Moment.
Zeit als Möglichkeit des Seins
Kairos verweist auf eine tiefere Struktur der Existenz: Zeit ist nicht bloß der Rahmen des Lebens, sondern der Raum, in dem das Leben sich vollzieht. Im Kairos wird Zeit zur Offenbarung – zum Augenblick, in dem das Mögliche wirklich wird.
Vielleicht ist dies die existenzielle Bedeutung des Kairos: Er ist der Moment, in dem der Mensch sich selbst begegnet – nicht als Zuschauer seiner Zeit, sondern als Mitwirkender am Geschehen des Seins.
Die Zeit ist nicht, was vergeht – sie ist, was geschieht.
Kairos als bewusste Annahme des Risikos
Kairos verlangt, dass wir die Komfortzone des Gewohnten verlassen – dass wir uns exponieren gegenüber dem Ungewissen. Denn der rechte Augenblick ist kein sicherer Ort. Er ist offen, riskant, unvorhersehbar. In ihm liegt die Möglichkeit des Neuen, aber auch die Gefahr des Scheiterns. Und doch ist genau das sein Wert: Kairos ruft uns in die Verantwortung des Augenblicks:
- Er fragt nicht: Was ist sicher?
- Er fragt: Was ist wahr?
Aber man kann bereit sein – durch Wachheit, Stille, innere Beweglichkeit. Vielleicht ist das moderne Leben so laut geworden, dass wir den Kairos kaum noch hören. Doch manchmal genügt ein Innehalten, ein Atemzug, ein Blick in eine unerwartete Richtung – und plötzlich ist er da: der Moment, in dem alles auf der Kippe steht, und doch alles Sinn ergibt.
Kairos ist kein Zufall. Er ist das Echo dessen, was in uns reif geworden ist – und nun Gestalt sucht.
Zeit wird zum Sein
Kairos erinnert uns daran, dass Leben mehr ist als Abläufe im Kalender. Er ist die Einladung, das eigene Dasein nicht zu verwalten, sondern zu vollziehen. Er ist der Schnittpunkt zwischen Welt und Innerlichkeit, zwischen Möglichkeit und Entscheidung. Und vielleicht ist genau das der Sinn der existenziellen Freiheit: nicht die beliebige Wahl, sondern das Erkennen des Augenblicks, in dem die Wahl wesentlich wird.
Kairos ist jener Moment, in dem Zeit zum Sein wird. Und der Mensch – für einen Augenblick – ganz anwesend.
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